Offener Brief zum transfeindlichen Artikel in der SZ

Update: nach einer Reihe kritischer Reaktionen wurde der Artikel inzwischen überarbeitet. Unter anderem wurde der Titel angepasst, ein kurzer Absatz mit Äußerungen eines trans Jugendlichen aus Dresden ergänzt und es kommt neben Rößner auch die Psychotheraputin Sabine Maur als Expertin zu Wort. An anderen Stellen bleiben allerdings relevante Kritikpunkte wie z.B. Misgendering bestehen.

Sehr geehrte Redaktion,

sehr geehrte Nora Domschke,

mit Irritation und Zweifel mussten wir, die Queer Pride Dresden, Ihren kürzlich am 20.01. erschienenen Artikel in der Sächsischen Zeitung zur Kenntnis nehmen, der bereits im Titel „Dresdner Mutter in Angst: ‚Meine Tochter will ein Junge sein'“ längst widerlegte transfeindliche Mythen aufgreift und diese ohne kritisch-journalistische Einordnung öffentlich verbreitet.

In Ihrem Artikel zeichnen Sie das Bild einer verzeifelten, verängstigten und übergangenen Mutter eines trans Jugendlichen. Anna, die junge alleinerziehende Mutter von Marley, einem trans Jugendlichen, der gerade seinen bei der Geburt zugewiesenen Namen für sich geändert hat, sei völlig überrascht und erschrocken vom wertschätzenden Umgang mit Marley in dessen Schule. Dort gibt es eine LGBTQI+ – AG, Marleys Lehrerin nutzt beim Sprechen über Marley dessen selbst gewählten Namen im Elterngespräch. Marley hat neue Freund_innen in der Dresdner Neustadt. Seit der Namensänderung und den neuen Kontakten geht Marley wieder raus und ist weniger lethargisch. Seit mehreren Monaten trägt er auch nur noch Jungenkleidung und verbirgt seine  Brust unter engen Bustiers. Eigentlich möchten wir Marley zu so viel Unterstützung seitens der Schule und über den Gewinn seiner neuen Freundinn_en herzlich gratulieren. Anna bestätigt uns ja im Text, dass es Marley seitdem besser geht. 

Jedoch entsteht in uns auch Sorge und Angst um Marley, wenn wir im Artikel lesen müssen, dass Anna einigen Vorurteilen Glauben schenkt, die sie dazu bringen, Marley im Herausfinden seiner eigenen Geschlechtsidentität zu behindern. Keine_r fragt Marley: Wie geht es dir eigentlich? Wie kann ich dich unterstützen? Was wünschst du dir von deiner Mutter? Leider lernen wir Marley im Text nicht kennen. Er kommt nämlich gar nicht selbst zu Wort. Wie gerne würden wir auch Anna zur Seite stehen und sie im Umgang mit ihren Ängsten und Unsicherheiten beraten. Das im Text zu Unrecht diskreditierte Regenbogenportal des Bundesminsteriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend können wir als eine seriöse erste Anlaufstelle zur Informationsgewinnung empfehlen. Und auch in Dresden gibt es z.B. bei dem Gerede e.V. ein fachlich gut aufgestelltes Beratungsangebot. Wir würden Anna gerne sagen, habe keine Angst, gib Marley den Raum, den er braucht um in seinem Geschlecht zu leben und sich auszuprobieren, gib Marley die Zeit, sich für oder gegen eine Entwicklung des Körpers im erlebten Geschlecht zu entscheiden. Erspare ihm das Leid, später in einem Körper leben zu müssen, der nicht zu ihm gehört. Oder gib ihm die Möglichkeit, später Gewissheit zu haben, dass der sich unverändert entwickelnde Körper der Richtige ist. 

Suizidalität ist unter trans Jugendlichen fünf mal höher als unter Jugendlichen die sich mit deren bei der Geburt zugewiesenem Geschlecht wohl fühlen (Austin, Craig, D’Souza, & McInroy, 2022). Wir wollen Anna keine Angst machen, doch wir wollen diese wichtige Information auch nicht unterschlagen. Die Zeit, sich auszuprobieren, würden Marley sogenannte Pubertätsblocker ermöglichen. Anschließend könnte, wenn Marley bei seiner Entscheidung bleibt seinen Körper verändern zu wollen, eine geschlechtsangleichende Hormontherapie erfolgen. All das würde, so lange Marley noch nicht 18 Jahre alt ist, nur mit der Zustimmung Annas erfolgen. Marley müsste sich von Psychotherapeut_innen und Fachärzt_innen beraten lassen. Erst wenn diese einer Gabe von Hormonblockern zustimmen, könnten Marley diese verordnet werden.

Leider erscheint dieser Weg von Anfang an verunmöglicht, da Annas Ängste dazu führen „alles zu tun, um die Einnahme von Medikamenten zu verhindern“. Wie gerne würden wir Marley seine Fähigkeit, für sich selbst zu entscheiden, zurück geben. Einem Professor für Kinder und Jugendpsychiatrie, Veit Rößner, wird im Text jedoch mehr Glauben geschenkt. Er darf die Gabe von Hormonblockern mit dem Essen von Gummibärchen vergleichen. Wir unterstellen 14-Jährigen die Reife, sich darüber im Klaren zu sein, dass Medikamente keine Süßigkeiten sind. Wir vermissen hier eine journalistische Überprüfung der steilen Thesen Rößners.

An dieser Stelle möchten wir darauf hinweisen, dass bereits seit Jahrzehnten Erfahrungen mit der Gabe von Hormonblockern vorliegen. Diese wurden bereits in den achtziger Jahren verordnet, um eine vorzeitige Pubertät zu verzögern (Helyar, Jackson, Patrick, Hill, & Ion, 2022). Nach Dr. Morissa Ladinsky von dem Universitätsklinikum der University of Alabama at Birmingham – einem der größten der USA – sind potentielle Nebenwirkungen nicht wahrscheinlicher oder schwerer als zum Beispiel bei Verhütungspillen, welche bekanntermaßen Millionen von Jugendlichen und Erwachsenen empfohlen werden (About puberty blockers, 2020). Rößner hat bisher nicht zum Thema geforscht, darf aber trotzdem als Experte auftreten. Eigentlich sind seine Schwerpunkte Ticstörungen und Tourette-Syndrom – es befindet sich zum Thema Geschlechtsidentität kein Eintrag in seiner Publikationsliste. 

Trans Identitäten bezeichnet Veit Rößner als Modeerscheinung. Autsch, das tut auch uns älteren trans Personen weh. Trans Personen sind real, es gab sie schon immer. Sie sind jetzt nur sichtbarer als früher. In einer transfreundlicheren Gesellschaft als vor 30 Jahren entscheiden sich mehr trans Personen schon in ihrer Jugendzeit für ein Coming Out, weil sie weniger Gewalt zu befürchten haben. Gerade deshalb halten wir die Unterstützung und den positiven Einfluss auf unser Wohlbefinden durch Freund_innen, Familie und Schule für sehr wichtig. 

Auch wir erinnern uns daran, dass es nicht immer leicht war für unsere Eltern. Zuwendung, Anerkennung und die Freiheit, für uns selbst entscheiden zu können, wünschten wir uns jedoch alle. Anna hat die Chance, vieles richtig zu machen, was frühere Elterngenerationen aufgrund fehlenden Wissens falsch gemacht haben. Rößner behauptet, dass bei 98% aller trans Jugendlichen der Wunsch nach Korrektur des bei der Geburt zugewiesenen Geschlechtes wieder verschwindet, obwohl er dazu gar keine Forschungsdaten hat. Das sagt er im Text selbst. Er weiß nicht einmal, wie viele trans Jugendliche es in Dresden gibt. Aus unserer Sicht sind er und seine Vorschläge für Anna weder für Kinder und Jugendliche noch für deren Eltern eine Hilfe.

Mehr trans Jugendliche als früher gibt es jedenfalls in Frankfurt am Main. Das sagt Kinderpsychiater Thomas Lempp (Adler, 2022), der die Fachberatung zum Thema des Clementinenhospitals in Frankfurt am Main leitet. Er gilt – im Gegensatz zu Herrn Rößner, der die simple Formel von „Zeit schinden“ propagiert – als führender Experte für Geschlechtsinkongruenz (Transidentität) und Geschlechtsdysphorie (Unwohlsein mit den angeborenen und sich entwicklenden körperlichen Geschlechtsmerkmalen). Rößner empfiehlt, die Jugendlichen gegen deren Willen ihrem vermeintlichem körperlichen Schicksal überlassen und nimmt damit potenzielles großes Leid in Kauf. Lempp hingegen sagt in einem Artikel des Deutschlandfunk Kultur: „Nicht zu handeln und Jugendlichen, die sich in ihrem Zuweisungsgeschlecht unwohl fühlen und auf der Suche sind, nicht zu helfen, ist keine Option.“ Er sagt auch: „Hormonblocker stoppen die Pubertät zunächst. Die Beantwortung der Frage, ob und wie dann weiter körperlich eingegriffen werde, sei ein Prozess. Die Entscheidung darüber träfe er nur gemeinsam mit den Jugendlichen – und mit den Eltern“

Drei Mal dürfen Sie raten, wohin wir gehen wollen würden, müssten wir uns zwischen Herrn Rößner und Herrn Lempp entscheiden, wenn wir wie Marley 14 Jahre alt wären und wohin wir Anna und Marley gerne schicken würden. Hormonblocker als Salbe hat bisher keine_r von uns auf dem Pausenhof gefunden, und dass, obwohl wir als Queer-Pride für die absolute Freiheit und alleinige Selbstbestimmung aller trans Menschen über deren Geschlechtsidentität und ihren Körper stehen.

Wir wünschen Marley und Anna alles Gute, bedanken uns bei Marleys Schule für den offenen Umgang mit dessen Transidentät und wünschen uns, dass Veit Rößner in Zukunft weniger überheblich, verängstigend und selbstdarstellerisch auftritt. Außerdem wünschen wir der Sächsischen Zeitung einen breiteren und sachlicheren Diskurs beim Thema Transidentität. Ihre Reproduktion von Falschinformationen schadet unserer Gesellschaft allgemein und trans Menschen insbesondere. Vielleicht lassen Sie nächstes Mal Marley selbst zu Wort kommen oder andere trans Menschen einfach für sich selbst sprechen. Weder den Betroffenen noch dem Diskurs ist geholfen, wenn Fakten und Empathie gegenüber Clickbaiting und den unüberprüften steilen Thesen eines medienaffinen Institutsdirektors weichen müssen.

Mit freundlichen Grüßen,

Queer Pride Dresden

Literaturverzeichnis:  

Adler, K. (2022, Oktober, 24). Ich bin doch kein Trend!Deutschlandfunk Kultur. https://www.deutschlandfunkkultur.de/geschlechtsidentitaet-trans-kinder-jugendliche-100.html

Austin, A., Craig, S. L., D’Souza, S., & McInroy, L. B. (2022). Suicidality Among Transgender Youth: Elucidating the Role of Interpersonal Risk Factors. Journal of Interpersonal Violence, 37(5–6), NP2696–NP2718. https://doi.org/10.1177/0886260520915554

Helyar, S., Jackson, L., Patrick, L., Hill, A., & Ion, R. (2022). Gender Dysphoria in children and young people: The implications for clinical staff of the Bell V’s Tavistock Judicial Review and Appeal Ruling. Journal of Clinical Nursing, 31(9–10), e11–e13. https://doi.org/10.1111/JOCN.16164

Oregon Health & Science University.(2020, December). About puberty blockers. OHSU Edu. https://www.ohsu.edu/sites/default/files/2020-12/Gender-Clinic-Puberty-Blockers-Handout.pdf