Über Wut
Ich müsse „meine Wut in den Griff bekommen“, wurde mir als Kind vorgehalten. Nachdem ich mich wieder mal in den Nebenraum des Klassenzimmers zurückgezogen hatte, weil alles zu viel wurde. Ich müsse „an meinem Temperament arbeiten“, wurde mir gesagt, nachdem ich mal wieder eine der Schikanen der Mobber unseres Jahrgangs ausgesetzt war – denn „zum Streit gehören ja immer zwei“.
Ich wuchs in einer Gesellschaft auf, die ich nicht verstand. Mit ihren vielen Regeln, die halt „einfach so sind“. Deren Nichteinhaltung häufig mit Ausgrenzung quittiert wurde und Hinterfragen ungebeten war.
Ich war immer irgendwie „anders“. Zumindest das fiel ihnen auf. Genug zumindest für eine „ADHS“-Diagnose. Dann wussten sie, was „kaputt“ mit mir war – mein „Aufmerksamkeitsdefizit“ und die „Hyperaktivität“ – juchei, da gibt es Medikamente, die mich „normaler“ machen sollen! Oh, die „Wutanfälle“ waren trotzdem noch da? Na, dann muss ich halt einfach weiter an meinem „Temperament“ arbeiten.
Hauptsache, ich halte mich an ihre Vorstellung davon, wie eins zu leben hat. Nur war ich da nie sonderlich gut darin. Zu einengend für mich – eingesperrt in die als „Normalität“ geradezu angebetete Tristheit.
„Geh doch mal Party machen, dann lernst du auch mal ein paar Leute kennen!“
„Wie sieht es denn bei dir mal mit einer Freundin aus?“
„Es ist aber schon ungewöhnlich, als ‚Mann‘ nicht gerne Auto zu fahren!“
„Geh doch mal raus an die frische Luft und hock nicht immer nur vor dem Computer!“
„Hab dich doch nicht so!“
Ich wuchs in einer Gesellschaft auf, die mich nicht verstand. Die mich aber nie verstehen musste, denn ich bin in der Minderheit. „Sei einfach du selbst, aber bitte nicht so“.
Hermeneutische Ungerechtigkeit ist der Begriff dafür, wenn Menschen nicht dazu in der Lage sind, ihre Erfahrungen selbst zu begreifen oder anderen zu vermitteln. Wenn ihnen dafür die Wörter fehlen und andere es ihnen nicht glauben.
Dass es dafür eine Bezeichnung gibt, habe ich erst viel später herausgefunden.
Dass ich nichtbinär bin und mit diesem ganzen „Männerkram“ überhaupt nichts anfangen kann, habe ich erst viel später herausgefunden.
Dass ich autistisch bin, Meltdowns ein Overload des Gehirns und kein „Temperament“ sind, habe ich erst viel später herausgefunden.
Dass meine Kinks komplett okay sind, wie man darüber kommuniziert und dass ich mich damit nicht mein Leben lang verstecken muss, habe ich erst viel später herausgefunden.
Dass ich lieber polyamor lebe, es das Double Empathy-Problem gibt und ganz und gar nicht „sozial unfähig“ bin, habe ich erst viel später herausgefunden.
Heute weiß ich, dass es dafür Wörter gibt. Heute weiß ich, dass ich neuroqueer bin, Cishetero-Monogam-Vanilla-Neuronormativität für mich einfach nicht funktioniert und dass jahrzehntelanges Gaslighting daran nichts ändert.
Was wäre, wenn ich all diese Worte schon vor 20 Jahren gekannt hätte? Wenn Konzepte von alternative Beziehungsformen, Konsens und die Existenz von Kinks bereits früh gelehrt und sprechen darüber normalisiert werden würden? Wenn jeder Mensch frühzeitig die Chance hätte, den eigenen Neurotyp zu erfahren und Zugang zu neuroaffirmativen Ressourcen und Unterstützung zu bekommen?
Die Realität sieht leider noch anders aus.
Realität ist, dass ein NS-Kindermörder einer Diagnose jahrzehntelang ihren Namen gegeben hat – Asperger. Oh, und natürlich ist der ICD-10 nach wie vor vielerorts im Einsatz.
Realität ist, dass noch immer eine Autismus-„Therapie“ angepriesen wird, die die gleichen Ursprünge hat wie Konversions“therapie“ für Homosexualität.
Realität ist, dass es als „Trend“ abgetan wird, neurodivergent zu sein. So wie es vor vielen Jahren mal „Trend“ war, dass es plötzlich linkshändige Menschen gab.
Realität ist, dass Autist:innen weiterhin als „kaputte Allistische“ gesehen werden. Sie reden von „Menschen mit Autismus“ statt von autistischen Menschen, von „Menschen, die unter Autismus leiden“ – als wäre Autismus von uns separierbar und als wäre da ein allistischer Mensch „unter dem furchtbaren Autismus“, den man am liebsten „heilen“ würde. Ich will gar nicht neurotypisch sein, ich will ich selbst sein. Man stelle sich mal vor, man würde von „Menschen mit Homosexualität“ sprechen. Von „Menschen, die unter Queerness leiden“.
Realität ist, viele gleichzeitig ohne formale Diagnose gar nicht ernst genommen werden, obwohl Selbstidentifikation in Bezug auf Autismus oft sehr akkurat ist und Betroffene meist sehr viel dazu recherchieren und oft viel mehr darüber wissen als das meiste Fachpersonal.
Realität ist, dass es eine extreme Hürde ist, als erwachsener Mensch überhaupt Diagnostikplätze zu bekommen. Stockkonservative Autismusambulanzen mit jahrelangen Wartezeiten sind oft die einzige Option. In Sachsen ist es besonders prekär – die Autismusambulanz an der Uniklinik Dresden die Aufnahme auf die Warteliste für Erwachsene ganz eingestellt.
Realität ist, dass Fachpersonal oft keine Ahnung von Neurodivergenz hat. Privilegien, Arroganz, alte Mythen. Es vergeht keine Woche, in der ich nicht von Betroffenen Horrorstorys mitbekomme: „ADHS? Kann doch gar nicht sein, Sie studieren doch!“, „Autismus? Nene, Sie haben mir doch in die Augen gesehen!“. Oder mein bisheriger Top-Favorit: „Sie können doch gar nicht autistisch sein, Sie sind doch attraktiv.“ Weiblich gelesen und Trauma? Hier, deine Borderline-Diagnose.
Realität ist, dass zig Organisationen ein Statement an die neue US-Regierung erstellen mussten, dass Autismus nicht durch Impfungen hervorgerufen wird. Dass in Großbritannien geplant wird, dass alle trans Kinder sich auf Autismus testen lassen sollen – um autistischen trans Personen ihr Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen. Ein US-Gesundheitsminister, der ein zentrales Register zur Erforschung der „Ursachen von Autismus“ schaffen will, um es zu „bekämpfen“. Es ist lange bekannt, dass Neurotypen wie Autismus hauptsächlich genetisch sind, die Konsequenz könnt ihr euch sicher denken.
Realität ist, dass öffentliche Hitlergrüße Musks von deutschen Medien als „unbeholfene Geste eines autistischen Mannes“ bezeichnet werden. Als wüssten Autist:innen nicht, was ein Hitlergruß ist. Ich. Könnte. Kotzen.
Ich bin wütend. Auf die Arroganz und die Ignoranz, die uns neuroqueeren Menschen entgegenschlägt. Wütend, dass man Menschen danach beurteilt, wie gut sie für eine normative Gesellschaft „funktionieren“ – und die, die nicht gut genug „funktionieren“, am liebsten loswerden will. Dass mit aller Kraft gerade versucht wird, Fortschritte zunichtezumachen und faschistische Unterdrückung wieder salonfähig zu machen. Dass so viele Menschen in ihrer kollektiven normativen Trance noch immer die Realität nicht sehen.
Antifaschistischer Queerfeminismus muss auch neuroqueer sein.
Ich soll an meiner Wut arbeiten? Klar. Aber sicher nicht so, wie ihr euch das vorgestellt habt. Alerta, alerta, antifascista!